Dornentunnel zum Kriegerbau » Gruselgeschichte

Geisternacht

Die Kerzen flackerten.
Sie sah ihr eigenes Bild im Spiegel und wäre fast davor zurückgeschreckt. In ihr tobten die Gefühle und der Sturm drohte, sie zu überwältigen. Verzweifelt versuchte sie, sich zu beruhigen, doch erfolglos. Schließlich gab es keinen Grund dazu, ruhig zu werden.
Sie wusste, was sie tat war unsinnig.
Und dennoch musste sie es tun.
Es war wie ein Sog, dem sie nicht entfliehen konnte.
So, als ob sie schon lange dazu auserwählt worden wäre.
Und es gab kein Entrinnen.
Das düstere Licht warf Schatten an die Wände, aber es gehörte zu dieser Zeremonie. Wie gerne hätte sie das Licht angeschalten, aber das durfte sie nicht. Sie hatte angefangen, nun musste sie es zu Ende bringen.
Sie ignorierte die flackernden Kerzen und nahm das Buch zur Hand. Die Seite hatte sie längst eingemerkt. Schon, seit sie das alte Buch im Wald gefunden hatte. Sie hatte Abenteuer und Gefahr, das Risiko, schon immer geliebt.
Doch was, wenn dies nun ihr Untergang war?
Die Worte stachen ihr in die Augen und wie von selbst begann ihr Mund sich zu bewegen.
Sie sprach die alten Worte leise, flüsternd.
Aufzuhören war unmöglich.
Die Gefühle in ihr kämpften gegeneinander an.
Tu es nicht, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Gib auf, eine Andere. Du kannst nicht entkommen.
Die Worte kamen aus ihrem Mund, immer schneller, wie ein Fluss, ein unaufhaltbarer Fluss des Verderbens.
Sie machte eine Pause, der erste Teil war vorbei.
Der schlimmste Teil jedoch lag noch vor ihr.
Sie fixierte ihr Bild im Spiegel. Ob sie es wohl zum letzten Mal sah?
Wieder flossen die Worte aus ihrem Mund.
Die Worte, über die sie stundenlang nachgedacht hatte.
"Bloody Mary!"
1.
Die Kerzen flackerten stärker, oder kam ihr das nur so vor?
"Bloody Mary!"
2.
Sie verfiel in Panik. Sie beschwor gerade den bösartigsten Geist, den es gab.
Einen Geist, der von den Menschen nur Rache wollte.
Und wenn sie ihn rief, konnte er ihr alles antun, was er wollte.
Dazu war nur diese eine Frau in der Lage.
Sie zitterte am ganzen Körper, sie musste dieses Ritual abbrechen!
Doch es war zu spät.
Schon kamen die Worte aus ihrem Mund
"Bloody mary!"
Das letzte mal.
Das Licht flackerte noch einmal auf, dann ging es aus.
Wie gelähmt stand sie da, sie konnte nichts tun, sie konnte sich nicht bewegen.
Die Kerzen flackerten wieder auf, erhellten den Raum.
Und durch den Spiegel huschte ein Schatten.
Und... dann war es vorbei.
Nichts passierte.
Erschöpft und zitternd ließ sie sich auf den kalten Boden sinken.
Erste Regentropfen des nahenden Gewitters fielen auf das Dach.

Nach einer Weile schaffte sie es, aufzustehen, und das Licht anzuschalten.
Ein Blick in den Spiegel.
Alles war normal. Nur das Zimmer in seinem normalen Licht.
Eine Kraft erfüllte sie, von der sie bisher noch nie etwas gespürt hatte.
Es war vorbei.
Jauchzend rannte sie die Treppe herunter und lief aus dem Haus, in den strömenden Regen. Das Gewitter war gerade dabei, sich zu entladen, erste Blitze zuckten über den Himmel und ein Donner grollte.
Sie rannte los, voller Freude.
Sie hatte es geschafft.
Und Bloody Mary war eben doch nur eine Legende!
Sie lief an der Baumgruppe vorbei, zum großen Abhang. Als Kind hatte sie aufpassen müssen, nicht die dreißig meter hohen Felsen herabzustürzen, aber ihre Eltern hatten das haus so romantisch gefunden. Genau wie den Abend zu zweit, der es ihr ermöglicht hatte, das Ritual durchzuführen.
Und ihr leben aufs Spiel zu setzen.
Aber das war doch alles Quatsch, wie sie bewiesen hatte.
Das konnte sie den Anderen erzählen.
Wild vor Freude rannte sie am Abhang entlang. Der Wind heulte und der Regen prasselte herab.
Sie rannte schneller, schneller und immer ausgelassener.
Und dann rutschte sie aus.
Sie verlor das Gleichgewicht und fiel.
Und in ihrem Kopf flüsterten die Stimmen.
Vorbei, vorbei, flüsterten sie.